„Wir können gar nicht so schnell forschen, wie sich die Welt verändert“

Ein Beitrag aus ALBERT Nr. 9 "Wasser"

Der Ozean heizt sich im Klimawandel stärker auf als der Rest des Planeten. Zugleich kann er helfen, ihn auszubremsen. ALBERT sprach mit der Meeresbiologin Antje Boetius über Algensterben unter dem Eis, methanfressende Bakterien, schleimige Igelwürmer am Nordpol – und eine Barbiepuppe im Polaranzug

Interview: Tomma Schröder

Frau Boetius, Sie sind Ende September aus der Arktis zurückgekehrt. Mit welchen Eindrücken sind Sie von Bord gegangen?

ANTJE BOETIUS Wir beobachten die Tiefsee und das Meereis rund um den Nordpol seit über 30 Jahren und sehen, welche direkten Konsequenzen der Klimawandel auf das arktische Leben hat. Und weil wir in diesem Jahr den global heißesten Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen hatten, haben wir natürlich erwartet, dass wir dem Meereis beim Schmelzen zusehen. Tatsächlich aber haben wir eine ganz ungewöhnliche Eislandschaft gesehen – und gemerkt: Die Transpolardrift hat sich verändert. Das heißt, die Bildung von Eisschollen hat an einem ganz anderen Ort stattgefunden als sonst. Und damit verändert sich auch das Leben im Eis und die Nahrungskette im Meer darunter.

 

Unter anderem wurden während der Expedition kaum Eisalgen gefunden, wie Sie schon von Bord berichteten. Warum sollten uns ein paar Algen weniger in der Arktis kümmern?

Wer sich die eisige Arktis-Landschaft vorstellt, hat meistens so eine Art Caspar-David-Friedrich-Bild vor Augen: aufgebrochene Eisschollen, ein Schiff darin, Menschen oder ein Eisbär auf der Scholle. Aber die Wenigsten wissen, dass unter dem Eis ganze Wälder von Algen wachsen. Und diese Eisalgen sind Teil des Nahrungsnetzes. Wenn die plötzlich weg sind, dann ist das für das Leben in der Arktis ungefähr so, als wenn unsere Bäume im Frühjahr kein Laub bilden würden. Das sind fundamentale Veränderungen. Wir haben bereits verstanden, wie es in diesem Jahr zur „Entlaubung der Eisschollen“ gekommen ist. Aber wir wissen noch nicht, ob das Phänomen wiederkehrt und was es für Konsequenzen für die Bewohner:innen der Arktis haben wird – vom Bakterium bis zum Wal oder Eisbär.

Eigentlich gibt es eine Art Eisfließband in der sibirischen Arktis, das Eisschollen auf dem Schelf produziert und Richtung Grönland schickt. Das war in diesem Jahr anders?

Ja, normalerweise kommt im eurasischen Becken, das wir erforscht haben, der größte Teil des Eises vom sibirischen Schelf. Und das ist ja relativ flach und küstennah. Dort wirbeln Herbststürme den Untergrund auf, Flüsse tragen Organismen vom Land mit ein. Dadurch ist das Eis, das dort im späten Herbst gebildet wird, voll mit Leben und vor allem mit Keimen der Eisalgen. In diesem Jahr bildete sich aber viel mehr Eis auf hoher See, mitten im Ozean vor Kanada. Und dort hatte das Eis keinen Kontakt zur Küste und bekam daher auch nicht diese Beimpfung mit Algen und anderen Lebewesen. So erklären wir uns das Phänomen der „Eisschollen-Entlaubung“, das wir in den vergangenen 30 Jahren nie so beobachtet haben.

Die Bildung von Eisschollen hat an einem ganz anderen Ort stattgefunden als sonst. Und damit verändert sich auch das Leben im Eis

Welche Begegnungen haben Sie in der arktischen Tiefsee besonders überrascht? 

Der arktische Dumbo-Tintenfisch zum Beispiel. Seine Spuren waren dieses Jahr überall im Boden zu sehen: Er stanzt einen Kreis in den Schlamm, wenn er sich zum Fressen niederlässt. Wir sind dort auch einer großen Vielfalt an Krebsen und Würmern begegnet. Wenn ich da etwas Neues entdecke, freue ich mich. Wir lachen auch oft, weil wir denken: „Oh, Wahnsinn, jetzt haben wir so lange in die Kamerabilder gestarrt, und jetzt endlich ist dieses Tier aufgetaucht und wir können sein Bild zeigen.“ Mir war es auch ein Anliegen, dass wir auf unserer Arktis-Reise endlich mal ein Bild vom echten geografischen Nordpol machen. Wenn man dort mit dem Schiff vorbeifährt, was ja mittlerweile auch schon viele Tourist:innen tun, dann sieht man Wasser und Eisschollen, die ständig in Bewegung sind. Das heißt, um den festen Nordpol zu sehen und zu schauen, was da lebt, muss man den Tiefseeboden fotografieren. 

 

Und das haben wir jetzt zum ersten Mal geschafft. Und dann sieht man, da wohnt gar nicht der Weihnachtsmann, sondern der schleimige Igelwurm? 

Genau. Aber so schleimig ist der eigentlich gar nicht. Er ist einfach ziemlich groß und hat eine sehr lange lilafarbene Zunge, mit der er den Meeresboden ableckt. Und er baut unfassbar viele Hügel. Das hat uns sehr erstaunt. Bei unserer letzten arktischen Expedition rund um den Nordpol vor zwölf Jahren war der Igelwurm noch selten – aber jetzt sieht es dort aus wie in vielen Gärten, in denen der Maulwurf gewühlt hat. Also ein, zwei Hügel pro Quadratmeter. Offensichtlich haben diese Würmer in den letzten Jahren von der Meereisschmelze und einem höheren Eintrag von Algen profitiert. Wir wissen nicht, wie sie jetzt reagieren, wenn die Eisalgen fehlen.

Wenn wir wieder vom Nordpol zurückkommen und auf den Weltozean als ganzen schauen: Wie geht es ihm?

Der Ozean wird viel zu warm, das ist besorgniserregend. Die Klimakrise wirkt direkt: 93 Prozent der Wärme wird vom Ozean geschluckt, nur 7 Prozent verteilt sich auf Land, Gletscher und Atmosphäre. Das heißt, wir haben wirklich enorme Hitzewellen im Ozean, die das Leben verändern und auch sehr zerstörerisch sind. Die Korallen bleichen aus, sehr viele der Fische, die wir gerne essen, sind bedroht, weil ihre Eier und Larven nicht mehr wachsen können, wenn es zu heiß wird. Das sind schon erschreckende Umstände. Als wir in der Arktis unterwegs waren, erreichten uns auch die Meldungen, dass in der Antarktis die geringste Meereismenge aller Zeiten gemessen wurde. Untersuchungen zeigten, dass vier von fünf Kaiserpinguin-Kolonien keinen Bruterfolg hatten. Und diese Geschwindigkeit und Gleichzeitigkeit solcher Beobachtungen, die sind für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen schon eine Herausforderung. Wir können gar nicht so schnell forschen, wie sich die Welt verändert. 

 

Das Schicksal von Pinguinen oder Walen lässt sich ja sehr gut vermitteln. Aber Sie forschen auch zu den ganz kleinen Lebewesen der Meere. Unterschätzen wir die?

Ja, die sind ja schon rund vier Milliarden Jahre länger auf der Erde als wir. Einzellige Algen im Meer haben die Photosynthese, also die Spaltung von Wasser mithilfe des Sonnenlichts, erfunden. Sie und ihre Nachfahren in den Pflanzen produzieren den Sauerstoff, den wir atmen. Viele der Mikroorganismen sorgen zudem für ein Kohlenstoff- und Stickstoff-Recycling, durch das Nährstoffe an die Algen zurückgegeben werden und der Kohlenstoff im Meeresboden versenkt wird. Trotzdem kennen wir die meisten Meeresmikroorganismen noch gar nicht. 

 

Haben Sie eine Lieblingsmikrobe? 

In der Forschung ist es natürlich Melosira arctica, die bereits erwähnte Eisalge, die riesige tangartige Wälder unter dem Meereis bauen kann. Aber die meiste Zeit meines Lebens habe ich mit den Methanfressern gearbeitet. Das ist eine Symbiose aus Archaebakterien und schwefelreduzierenden Bakterien. Sie verzehren das Methan, das tief unten im Meeresboden gebildet wird. Würden sie das nicht tun und würde das ganze Methan in die Atmosphäre aufsteigen, dann hätten wir einen ganz anderen Planeten! Mittlerweile hat meine Arbeitsgruppe auch herausgefunden, dass diese Mikrobengemeinschaften nicht nur Methan fressen, sondern auch Komponenten vom Erdöl. Das ist schon ein Wunderwerk der Natur, diese Symbiose.

Als wir in der Arktis unterwegs waren, erreichten uns auch die Meldungen, dass in der Antarktis die geringste Meereismenge aller Zeiten gemessen wurde

 

Es gibt ja auch verschiedene Vorschläge, wie der Ozean uns helfen könnte, mehr Treibhausgase aus der Atmosphäre zu holen. 

Der Ozean hilft uns schon die ganze Zeit! Er nimmt ja fast ein Drittel des menschengemachten Kohlendioxids auf. Da der Ausstieg aus den fossilen Energiequellen wie Kohle, Öl und Gas nicht schnell genug geht, muss die Lücke zu den Emissionszielen geschlossen werden, um Katastrophen zu vermeiden. Daher gibt es viel Hoffnung, technische Lösungen hochzufahren, zum Beispiel die CO² Speicherung im Meeresboden, wie sie etwa von Norwegen in der Nordsee durchgeführt wird. Es gibt auch Forschung dazu, wie man in den Meeren viel mehr Makroalgen anbaut und sie versenkt oder als naturnahe Wertstoffe und Dünger verwendet. Oder wie wir wieder den natürlichen Klimaschutz im Meer ausbauen könnten, also Mangroven und Seegras anbauen. Aber nichts davon ist einfach. 

 

Die Meere werden heute ohnehin schon stärker genutzt als je zuvor. Sehen Sie sich auch als Anwältin der Meere? 

Ein Anwalt mit Fokus auf Rechtssprechung bin ich sicherlich nicht. Ich bin eine Erdsystemforscherin mit Schwerpunkt Mikrobiologie, Biogeochemie, Tiefsee und Polarforschung. Ich kann mit meiner Kommunikation und den Daten natürlich dazu beitragen, dass vernünftige Regelungen gefunden oder Gesetze formuliert werden, die zum nachhaltigen Umgang mit dem Meer beitragen. Dass es jetzt zum Beispiel Schutz für die Biodiversität auch auf der Hohen See gibt, das war ja ein sehr langer Prozess, an dem auch die Wissenschaft beteiligt war. Derzeit liefern wir auch Fakten und ökologische Studien zur Regelung von Tiefseebergbau, Fischerei und Küstennutzung. Dass wir die Versuche, die Nutzung der Meere gerechter und nachhaltiger zu gestalten, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen unterstützen, finde ich sehr wichtig. Anwält:innen sind wir trotzdem nicht.

 

Aber Sie sind ein Vorbild für Frauen in der Wissenschaft. Es gibt sogar eine Barbie in Polaranzug, die Ihnen nachempfunden wurde. Sie haben so eine „Polarbarbie“ mit an den Nordpol genommen. Was für eine Botschaft soll sie von dort vermitteln? 

Ja, das ist eher ein Scherz. Aber so eine polarforschende Barbie ist gar nicht so schlecht, um Herzen zu gewinnen! Wir versuchen immer mehr, Expeditionen mit Fotos, Filmmaterial und Nachrichten gut zu begleiten, um Menschen an der Methode Forschung teilhaben zu lassen, auch Jugendliche. Und wenn ich da mal eine Barbiepuppe dabeihabe, freut das manche Kinder – sie können das sehen und sich denken: „Die spielt mit Puppen und kann als Polarforscherin zum Nordpol, das will ich auch.“

 

Hatten Sie selbst als Kind auch Vorbilder oder Berufsträume? 

Ja, ich hatte den Traum, Ozeanentdeckerin zu sein. Geweckt wurde der vor allem durch Bücher wie Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“, „Die Schatzinsel“ oder „Moby Dick“. Über die Zeit ist da der Wunsch entstanden, zur See zu fahren, wenn ich groß bin. 

 

Was haben Sie für eine Beziehung zum Meer? Sind sie am liebsten direkt darin oder schauen Sie es sich lieber von der Bordkante aus an? 

Ich schwimme wahnsinnig gerne. Das ist für mich die beste Erholung. Und ich habe zum Meer eine tiefe Respektsbeziehung, weil ich weiß, dass auf diesem Planeten kein Leben wäre ohne das Meer.

Stand: März 2024