Glückspilz

Ein Beitrag aus ALBERT Nr. 6 "Katalyse"

Die Chemiker Roderich Süßmuth und Christian Hackenberger durchforsten die Natur nach molekularen Verbindungen für neue Medikamente. Auf ihrer Fahndungsliste stehen auch Giftpilze, Pflanzenschädlinge und spezialisierte Mikroorganismen 

Text: Dietrich von Richthofen

Das Bakterium Xanthomonas albilineans ist ein hoch spezialisierter Schädling, der vor allem in Zucker- rohrplantagen gefürchtet ist. Doch vielleicht wird er in Zukunft auch ein Verbündeter des Menschen – im Kampf gegen Infektionen.

Die Waffe des Einzellers: das Biomolekül Albicidin. Im Zuckerrohr hemmt es die für die Fotosynthese zuständigen Chloroplasten, schließlich zur Schädigung der Pflanze führt. In anderen Mikroorganismen – Bakterien und Archaea – blockiert es dagegen die Vervielfältigung der Erbsubstanz. „Albicidin hat deshalb großes Potenzial als neuartiges Antibiotikum“, glaubt Roderich Süßmuth, Leiter des Fachgebiets Biologische Chemie an der Technischen Universität Berlin.

Doch wie stellt man ein solches Molekül her? Und wie macht man ein wirksames und verträgliches Medikament daraus? Diese Fragen wollen Roderich Süßmuth und Christian Hackenberger, Bereichsleiter für Chemische Biologie am Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie in Berlin-Buch, mit ihrer Forschung beantworten. Dafür durchforsten sie Pflanzenschädlinge, Weichtiere aus der Tiefsee, hochgiftige Waldpilze und spezialisierte Mikroorganismen nach wirksamen molekularen Verbindungen wie Albicidin. Sodann spielen sie virtuos auf der Klaviatur biologischer und chemischer Katalyse, um wirtschaftlich und technisch sinnvolle Synthesewege zu entwickeln und aus dem Rohdiamanten im Idealfall einen pharmazeutisch wirksamen Wirkstoffkandidaten wie etwa ein Antibiotikum oder ein Krebsmedikament zu schleifen. 

Enzyme sind Diven

Schwerpunkt ihrer gemeinsamen Forschung sind Peptide, die kleinen Schwestern der Proteine, zu denen auch das vielversprechende Albicidin zählt, weshalb Peptide auch in einem Graduiertenkolleg der Deutschen Forschungsgemeinschaft bearbeitet werden. In allen Zellen und Mikroorganismen vertreten, gibt es in der Natur eine unüberschaubare Vielfalt dieser Moleküle. Bodenbakterien, Mikroben, die in heißen oder schwefelhaltigen Quellen leben, Meeresorganismen – sie alle produzieren verschiedenartige Peptide. Als Botschafter, Regulatoren, Transporter oder Toxine kommen sie an vielen Schlüsselstellen der biologischen Lebensmaschinerie gezielt zum Einsatz. Das macht sie für die Pharmaforschung hochinteressant.

Ihre Gewinnung für Laborzwecke ist jedoch meist mit großen Herausforderungen verbunden. Ausreichende Mengen der komplexen Biomoleküle auf wirtschaftlich sinnvollem Wege herstellen zu können, ist für die Durchführung weiterer Versuche wichtig – und entscheidet mit darüber, ob die Verbindung als Medikament jemals auf dem Pharmamarkt bestehen kann. Erstes Mittel der Wahl für die Herstellung sind Fermentationsprozesse, bei denen man Organismen, in denen die Biomoleküle vorkommen, in Zellkulturen heranzieht und den Wirkstoff dann extrahiert. „Die Zelle agiert dabei wie ein hochkomplexer Katalysator, der aus den Einzelbausteinen in vielen Schritten die komplizierten Strukturen zusammensetzt“, sagt Süßmuth. Ein eleganter Weg, schließlich ist der Organismus darauf ausgelegt, die gewünschte Substanz zu produzieren.

In jedem Einzelschritt der Chemiefabrik der Zelle kommen hochspezifische Enzyme – die natürlichen Katalysatoren der Zelle – zum Einsatz. Süßmuth ergründet, wie diese Enzyme funktionieren und wie sie sich austricksen lassen. Manchmal ändert er einzelne Bausteine, sodass diese andere Funktionen übernehmen. Manchmal bringt er sie dazu, statt der von der Natur vorgesehenen Bausteine synthetische Verbindungen in Peptide einzubauen, um zu schauen, welchen Einfluss das auf ihre Wirkung und Wirksamkeit hat. Eine Aufgabe, die häufig scheitert. „Enzyme sind oft Diven“, sagt Süßmuth. Man müsse sie auf Händen tragen.

Eine chemische Totalsynthese

Hinzu kommt, dass sich längst nicht jeder Organismus einfach in einer Zellkultur heranziehen und dazu überreden lässt, große Mengen von einem bestimmten Peptid herzustellen. Und selbst wenn er es tut, könnte das die fein austarierten Stoffwechselwege aus dem Gleichgewicht bringen. Dann müssen die Chemiker*innen nach Wegen suchen, die Peptide synthetisch herzustellen. Doch die Moleküle sind komplex: „Im Labor brauchen wir oft mehrere Jahre dafür, einen Syntheseweg für solche Moleküle zu finden“, sagt Süßmuth.

So war es auch beim Albicidin. Lange war die Erforschung des Moleküls schwierig. „Aus 500 Litern Zellkultur kann man gerade einmal ein Milligramm Albicidin gewinnen.“ Versuche, das Proteobakterium Xanthomonas albilineans zu einer höheren Produktion anzuregen, scheiterten. 2015 schließlich gelang es Süßmuth und seinen Mitarbeiter*innen aber, das hochkomplexe Biomolekül komplett im Chemielabor nachzubauen – eine chemische Totalsynthese ohne Hilfe des Bakteriums. 15 Einzelschritte unter Einsatz chemischer Katalysatoren und Reaktionsmechanismen seien hierfür notwendig, erklärt Süßmuth. Die verwendeten Katalysatoren würden dabei, ähnlich wie Enzyme, eine Reaktion bei möglichst milden Bedingungen und Temperaturen ermöglichen. Das sei entscheidend, denn andernfalls denaturierten die beteiligten Peptide und es bliebe von ihnen nur ein undefiniertes Eiweißknäuel übrig. „Das war selbst für uns eine große Herausforderung.“

Mittlerweile können sie den Wirkstoff grammweise herstellen – und sie spüren dem Potenzial von Albicidin als neuem antibiotischem Medikament nach. Dabei stellen die Forscher*innen verschiedene Varianten des Moleküls her und suchen nach den Kandidaten mit der besten Wirksamkeit und den günstigsten Eigenschaften.

Lange waren peptidbasierte Medikamente kaum auf dem Markt vertreten. In den letzten 15 Jahren hat die Peptidforschung dank der rasanten Fortschritte in den Biowissenschaften sowie dem zunehmenden chemischen Know-how und verfügbaren Katalysetechniken einen immensen Wachstumsschub erlebt. Bei Peptidforscher*innen, Pharmarmen und Start-ups herrscht Goldgräberstimmung – knapp 200 Peptid-Wirkstoffe sind mittlerweile zugelassen, 800 weitere sind in der Pipeline. Bis 2025, so prognostizieren Marktforscher, wird der Peptidmarkt auf einen Umsatz von 65 Milliarden Dollar wachsen. Ein Paradigmenwechsel in der Pharmaindustrie? „Antikörper und Peptide gewinnen auf jeden Fall zunehmend stark an Bedeutung“, befindet Hackenberger. Vor allem Krankheiten, bei denen fein austarierte Stoffwechselvorgänge aus dem Ruder laufen, wie beispielsweise Diabetes, seien für solche Ansätze prädestiniert, aber auch Krebs oder neurodegenerative Erkrankungen. 

Peptide gegen Krebs

Hackenberger ist Spezialist darin, große Moleküle wie Proteine, Antikörper und Peptide gezielt miteinander oder mit anderen chemischen Einheiten reagieren zu lassen. Vorbild ist ihm dabei die Natur: Mittels spezieller Biokatalysatoren werden in der Zelle Proteine mit verschiedenen chemischen Verbindungen markiert – darunter Phosphorgruppen, Zuckermoleküle, Acetyl- oder Methyleinheiten. Über derartige Mechanismen merkt der Körper zum Beispiel fehlerhafte DNA-Bausteine für die Reparatur vor, beeinflusst die Stabilität und Aktivität von Enzymen und markiert Eiweiße als Zellmüll, um sie dem Recyclinghof der Zelle zuzuführen. Die Biokatalysatoren bringen die chemischen Gruppen nur an genau definierten Positionen der dreidimensionalen Struktur an – eine chemische Meisterleistung, die im Labor nicht einfach nachzumachen ist.

Hackenberger spannt deshalb solche Biokatalysatoren oder auch hochselektive chemische Reaktionen für seine Zwecke ein, um eigene chemische Modikationen an Proteinen wie etwa Antikörpern oder viralen Capsiden und Peptiden vorzunehmen. Das eröffnet den Weg zu neuartigen Medikamenten, sogenannten Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten, bei denen der eigentliche Wirkstoff gezielt an einen krebsspezifischen Antikörper gekoppelt wird. Das kann in der Tumortherapie nützlich sein: Der Antikörper transportiert den Wirkstoff – ein Zellgift – durch die Blutbahn zur Krebszelle, dockt an ihre Oberfläche an und wird eingeschleust. Dies konnte Christian Hackenberger in Zusammenarbeit mit Heinrich Leonhardt von der Ludwig-Maximilians-Universität München zeigen. Im Inneren der Krebszelle wird der Wirkstoff freigesetzt, die Krebszelle stirbt. „Entscheidend ist bei solchen Verknüpfungen, dass man die Position für die Verknüpfung zwischen Antikörper und Wirkstoff möglichst genau definieren kann“, erklärt Hackenberger.

In Zukunft wollen Hackenberger und Süßmuth ihre Fähigkeiten zusammenlegen, um die Entwicklung peptidbasierter Wirkstoffe weiter voranzubringen. Gemeinsam mit der von Hackenberger mitgegründeten Firma Tubulis wollen sie neue Peptide entdecken, synthetisieren und an Antikörper koppeln. Ein erstes konkretes Projekt gibt es schon: ein hochgiftiges Peptid aus einem Pilz, das künftig per Antikörper in Krebszellen oder infektiöse Bakterien transportiert werden könnte. Mehr könnten sie noch nicht verraten, doch das Glück scheint auf ihrer Seite zu sein: Erste Versuche hätten eine hohe Wirksamkeit bei bestimmten Krebsarten gezeigt.

Auch beim Albicidin konnte Süßmuth bereits vielversprechende Daten gewinnen – gegen mehrere multiresistente Erreger scheint das Peptid ausgezeichnet zu wirken. „Mein Traum als Forscher ist es, einen relevanten Wirkstoff zu entdecken, der es bis in die Anwendung am Menschen schafft“, bekennt Süßmuth. Ein Wirkstoff, der sich die Raffinessen der Natur zu eigen macht.

Stand: Dezember 2020